Abweichend von der Norm

Markante Persönlichkeit oder krankhafte Störung? Nachtrag zur juristischen Grauzone zwischen Coaching und Therapie.

Vor einigen Jahren kam ich auf einem Coaching-Kongress mit William (Name geändert), einem erfahrenen psychologischen Psychotherapeuten und Coach ins Gespräch. Schnell war klar, wir hatten die gleiche Wellenlänge. Beim Mittagstisch unterhielten wir uns angeregt über die unterschiedlichen Methoden und Tools die wir im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung weiterempfehlen konnten. Ich selbst arbeite hauptsächlich mit der Methode BSDR, von der ich ihm berichten wollte.

Stolz erzählte ich von dem ungewöhnlichen Fall einer jungen Klientin, die zu mir kam, um für den Arbeitsmarkt wieder fit zu werden. Nach Friedemann Schulz von Thun konnte ich einen bedürftig-abhängigen und bestimmend-kontrollierenden Persönlichkeitsstil erkennen, eine neurotische Angst- oder Zwangsstörung hingegen ausschließen.

William hörte sich meinen Fall an und kommentierte meine Erzählungen mit den Worten: „Monika, deine Erfolge mit der jungen Frau sind beeindruckend. Es hört sich für mich allerdings so an, als hätte sie eine Persönlichkeitsstörung. Das wäre dann unerlaubte Heilbehandlung!“ Persönlichkeitsstörung? Für mich war es bis dato eine leere Worthülse. Zu Hause startete ich meine Recherche, um die Unterschiede zwischen Persönlichkeitsstilen und Persönlichkeitsstörungen zu finden.

ICD-10 beschreibt, welches Verhalten von der Norm abweicht

Zunächst dachte ich, dass ich die Antwort im Diagnosesystem ICD-10 finden würde. Dort sind im Teil F60 die Diagnosekriterien für Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen erfasst. Je nach charakterlicher Ausprägung werden die Persönlichkeitsstörungen in drei Hauptgruppen (nach dem „Drei-Cluster-Modell der Psychiatrie“) unterteilt. Und zwar in tendenziell absonderliches, dramatisches oder furchtsames Verhalten (siehe Grafik). Als ich die Kernsymptome las, war ich überrascht, da ich viele der aufgeführten Störungen als Persönlichkeitsstile kenne, die gemeinhin im Bereich des „Normalen“ liegen. Wo also liegt der Unterschied?

In seinem Buch Persönlichkeitsstörungen schreibt Peter Fiedler, Professor für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg (2007): „In der aktuellen Persönlichkeits(er)forschung normaler, d.h. klinisch unauffälliger, Probandengruppen fällt auf, dass die in den Diagnosesystemen findbaren Kriterien der Persönlichkeitsstörung sehr häufig auf Personen zutreffen, die man selbst kaum als persönlichkeitsgestört bezeichnen würde oder dürfte. Nicht gerade wenige Menschen erfüllen sogar die Mindestanzahl von Kriterien einer oder mehrerer Persönlichkeitsstörungen, kommen jedoch in ihren sozialen Bezügen ohne große Probleme zurecht und gehören gelegentlich sogar zu hoch angesehenen Kreisen unserer Gesellschaft.“

Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit

Unerlaubte Heilbehandlung setzt voraus, dass beim Betroffenen eine krankhafte Störung vorliegt. Die Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ darf in Deutschland aber nicht nur anhand der beschreibenden Kriterien nach ICD-10 gestellt werden. Zunächst einmal muss der Nachweis erbracht werden, dass die Abweichung von der Norm stabil und von langer Dauer ist und dass sie im späten Kindesalter oder in der Adoleszenz begonnen hat, und nicht durch andere Krankheiten oder die Einnahme von Drogen oder Medikamenten zurück zu führen ist. Weiter müssen laut Peter Fiedler zusätzlich mindestens eines der drei Prüfkriterien erfüllt werden:

  1. Die betreffende Person leidet selbst unter ihrer Persönlichkeit und ist dadurch in ihrer persönlichen, sozialen oder beruflichen Leistungsfähigkeit eingeschränkt.
  2. Es besteht das Risiko der Entwicklung oder Verschlimmerung einer psychischen Störung (z.B. Depression, Angststörungen, Suizidgefahr) oder der Persönlichkeitsstil steht eindeutig mit dieser Symptomatik im Zusammenhang. Hier hat der Therapeut die Pflicht seine Patienten über die Risiken aufzuklären.
  3. Die Betroffenen sind aufgrund ihrer Persönlichkeitseigenarten und damit auch eines erheblich eingeschränkten psychosozialen Funktionsniveaus mit ethischen Normen, mit Recht und Gesetz in Konflikt geraten. Das könnte bei Stalkern, Soziopathen oder Menschen mit Störungen der sexuellen Präferenz der Fall sein.

Liegt keines dieser Kriterien vor, darf keine Diagnose einer Persönlichkeitsstörung gestellt werden. Man spricht in solchen Fällen von einem markanten Persönlichkeitsstil. Laut Peter Fiedler leitet sich diese Vorgehensweise aus den Grundrechten des Menschen her, die etwa mit dem Artikel 2 des Grundgesetzes (Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit) der individuellen Ausgestaltung der Persönlichkeit großzügige Freiheiten einräumen. Ein anderes Vorgehen käme einer Zwangsdiagnose gleich, die in Deutschland nicht erlaubt ist.

„Die Anderen sind das Problem!“

Die meisten Menschen sind in der Lage auf unterschiedliche Situationen flexibel zu reagieren. Im Gegensatz dazu sind bei Menschen mit einer Störung der Persönlichkeit bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensstile sehr stark ausgeprägt und gleichzeitig starr und unflexibel. Die Störung kann unterschiedliche Facetten treffen, wie z.B. beim Erleben von Gefühlen, bei der Kontrolle von Impulsen, bei der Wahrnehmung der Realität, der Selbstwahrnehmung und letztendlich bei der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen.

Fest steht: Ob die Familie, die Kollegen, Mitarbeiter oder die Nachbarn unter dieser Persönlichkeit leiden, ist nicht ausschlaggebend für den Befund einer psychischen Störung. Ein typisches Denkmuster lautet: „Ich bin nicht krank – die Anderen sind das Problem!“ Ohnehin lässt sich, wie auch Peter Fiedler betont, die Grenze zwischen „Normalität“ und „Abweichung“ nicht durch Kriterien und Kriteriengewichtung ziehen. Was normal ist und was nicht, ist häufig eine Kulturfrage. Kein Wunder also, wenn der Betroffene zunächst zum Coach geht.

Dokumentation kann strafrechtliche Vorwürfe entkräften

„Auf was müssen Coaches und Heilpraktiker sonst noch achten, wenn sie mit Betroffenen arbeiten, die sich selbst als psychisch gesund einstufen?“, wollte ich wissen. Hierzu erhalte ich von Rechtsanwalt Jari Hansen, Hamburg, zwei wichtige Hinweise:

  1. „Wer wissentlich und willentlich die Heilkunde ausübt, ohne zur Ausübung des ärztlichen Berufes berechtigt zu sein und ohne eine Erlaubnis nach dem Heilpraktikergesetz zu besitzen, wird gemäß §5 (1) Heilpraktikergesetz mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft, falls keine Rechtfertigung- oder Schuldausschließungsgründe vorliegen.“
  2. Über den Willen des Patienten darf sich niemand hinwegsetzen. Jede Heilbehandlung erfüllt den Tatbestand einer Körperverletzung und wäre ohne eine rechtfertigende Einwilligung strafbar. Eine wirksame Einwilligung kann nur erteilt werden, wenn vorher über alle Risiken der Behandlung aufgeklärt wurde. Wenn in eine Untersuchung nicht eingewilligt wurde und das übermitteln der Diagnose eine psychische Beeinträchtigung erst hervorruft, kann eine gemäß § 223 StGB strafbare Körperverletzung vorliegen.

Um diese beiden Risiken zu umgehen, empfiehlt Jaris Hansen eine sorgfältige Dokumentation der entsprechenden Fälle. Dadurch können strafrechtliche Vorwürfe entkräftet werden. Die Dokumentation muss ein Aufklärungsblatt zu möglichen Risiken, eine schriftliche Einwilligung und Hinweise auf ein mögliches Abweichen von dem (Schulmedizinischen) Standard enthalten. Liegen diese Dokumente vor kommt eine Strafbarkeit wegen Körperverletzung nur noch in Betracht, wenn die Behandlung im höchsten Maße verwerflich ist und gegen die guten Sitten verstößt.

„Etikettiert Gläser – nicht Menschen!“

Auch für Fachleute ist es häufig schwierig, zwischen einem sehr ausgeprägten, auffälligen Persönlichkeitsstil und einer krankhaften Störung zu unterscheiden, zumal die Übergänge fließend sind. Coach und Therapeut können beide als Ansprechpartner gelten, wenn es um die Beseitigung von Leid und das Wiederherstellen der Leistungsfähigkeit geht. Wird die Ursache des Problems in einer frühkindlichen Entwicklungsstörung vermutet, sollte der Fall therapeutisch abgeklärt werden. Ansonsten warne ich vor Stigmatisierungen jeglicher Art, da jeder Mensch eine einzigartige Persönlichkeit hat, die bis zum Lebensende kontinuierlich entfaltet werden kann.

Das juristische Risiko für den Coach variiert mit der jeweiligen Störung stark und kann nur für den Einzelfall geklärt werden kann. Ob meine Klientin nun tatsächlich eine solche Störung hatte, vermag ich rückwirkend nicht zu beurteilen. Zumindest hat mich dieses Ereignis dazu bewegt, meinen Heilpraktiker für Psychotherapie zu machen.

Literaturquellen

Friedemann Schulz von Thun: Miteinander Reden 2, Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung, Differentielle Psychologie der Kommunikation. Rowohlt, Hamburg 2008

Peter Fiedler: Persönlichkeitsstörungen, 6. Auflage. Beltz Verlag, Weinheim / Basel 2007

Christopher M. Ofenstein: Lehrbuch Heilpraktiker für Psychotherapie, 2. Auflage. Urban & Fischer Verlag, München 2013

http://www.icd-code.de/icd/code/F60F69.html

Printausgabe erschienen im Magazin Praxis Kommunikation, Ausgabe 03/2015 im Junfermann Verlag
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